
Selbstkritisch sei angemerkt, dass von der SPD im Jahr 2003 auf den Weg gebrachten Arbeitsmarktreformen zur Ausweitung des Niedriglohnsektors beigetragen haben. Viele Beschäftigte können den eigenen Lebensunterhalt nicht aus ihrem Arbeitseinkommen bestreiten und sind deshalb auf Zuschüsse des Staates angewiesen. Eine Studie der Prognos-AG aus dem Jahr 2011 bestätigt, dass 3,6 Millionen Menschen für weniger als sieben Euro brutto pro Stunde arbeiten, von denen wiederum nahezu die Hälfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Die Behauptung, ein niedriger Lohn basiere automatisch auf einer geringen Qualifikation, trifft allenfalls bedingt zu.
Die von der CDU favorisierten Lohnuntergrenzen sollen, so der entsprechende Parteitagsbeschluss, durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt werden, die weitere Einzelheiten und Differenzierungen vereinbaren darf. Damit droht ein unübersichtliches und uneinheitliches Tarifgefüge, das keine Garantie auf flächendeckende existenzsichernde Löhne bietet. Darüber hinaus sollen die besagten Lohnuntergrenzen nur dort vereinbart werden, wo es nicht bereits Tarifverträge gibt. Und genau hier liegt ein Problem: in vielen Dienstleistungsbranchen werden auf Basis geltender Tarifverträge Stundenlöhne von deutlich unter acht Euro bezahlt. Dies gilt zum Beispiel für das Friseurhandwerk, den Bereich der Textilreinigung und den Einzelhandel. Häufig sind auch Fachkräfte von den Niedriglöhnen betroffen: so liegt der tarifliche Anfangsverdienst für Bäcker- und Konditorgesellen bei 6,97 Euro. Mitarbeiter von Architektur- und Ingenieurbüros bekommen gerade einmal 6,21 Euro.
Fazit: um dem wachsenden Niedriglohnsektor wirksam zu begegnen muss ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro als verbindliche Untergrenze für alle Branchen eingeführt werden. Das häufige Argument, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, greift zu kurz, denn Jobs im Niedriglohnsektor betreffen vor allem ortsgebundene Dienstleistungen, zum Beispiel in Bäckereien oder Friseursalons. 20 der 27 EU-Staaten schützen ihre Bürger durch einen Mindestlohn, der zum Teil deutlich über den von den hiesigen Gewerkschaften geforderten 8,50 Euro liegt. Laut einer Studie der Prognos-AG aus dem Jahr 2010 würden sich die Erwerbseinkommen bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in Deutschland um 14,5 Milliarden Euro erhöhen mit der Folge höherer Einkommensteuer- und Sozialbeitragsaufkommen. Die Studie geht auch auf Zweitrundeneffekte in Form indirekter Steuern in Folge des erhöhten Konsums ein: ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro würde dem Staat knapp 700 Millionen Euro an Mehreinnahmen bringen.
In insgesamt elf Branchen gibt es Mindestlöhne, im niedersächsischen Gaststättengewerbe gilt seit kurzem eine verbindliche Lohnuntergrenze von 7,94 Euro. Letztere beruht jedoch weniger auf einem politischen Vorstoß der CDU/FDP-Landesregierung als auf einer freiwilligen Einigung der Dehoga und der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG). Im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums wurden die Effekte von acht Branchenmindestlöhnen untersucht. Trotz der Anhebung der Löhne im unteren Bereich gab es keine negativen Beschäftigungseffekte. Die betroffenen Unternehmen sehen die Mindestlöhne überwiegend positiv, weil sie Wettbewerbsgleichheit herstellen.
Existenzsichernde Einkommen sind ein Zeichen des Respekts für getane Arbeit und ermöglichen es, für ein würdevolles Leben im Alter vorzusorgen. Leider beißen die Oppositionsparteien mit ihren Vorstößen für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bei der Regierungskoalition nach wie vor auf Granit. So fand auch der Gesetzentwurf der SPD auf Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro am vergangenen Freitag keine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Es bleibt zu hoffen, dass die CDU ihre Meinung im Sinne aller Niedriglohnbeschäftigten ändert. Es wäre nicht die erste politische Kehrtwende einer Kanzlerin Merkel.
(erschienen als Verdener Gespräch in der Verdener Aller Zeitung vom 26.01.2012)